Deutschland – ein Industriemuseum?
Aktuelle Bücher vorgestellt: „Silicon Germany“ von Christoph Keese

Verschläft Deutschland die Digitalisierung? Was ist faul in der Nation der Handwerker, Mechaniker und Ingenieure? Der Medienmanager Christoph Keese besichtigt ein Land mit einer großen Industrietradition, das womöglich deswegen die digitale Revolution verpassen könnte.
Der Journalist und Verlagsmanager Christoph Keese haut nach seinem Besuch im kalifornischen Silicon Valley auf den Alarmknopf: Deutschland, eine der führenden Industrienationen, hat den Anschluss an die Digitalisierung gründlich verpasst! Wie konnte das nur passieren? Und was können wir tun, um den Rückstand so schnell wie möglich aufzuholen? Wie weit Deutschland in der Digitalisierung zurückgefallen ist, erlebt der Vize-Präsident der Axel Springer SE zunächst im eigenen Garten: Dort soll ein Rasenroboter von Bosch seine Runden drehen. Doch nichts funktioniert. Das Gerät kommuniziert nicht mit dem Smartphone und meldet unverständliche Fehler. Entnervt holt der Verlagsmanager seinen Handmäher aus der Ecke und fragt sich: „Warum kann Bosch nicht, was Google kann?“
Doch statt die Kundenhotline von Bosch anzurufen und sich über den nichtfunktionierenden Mähroboter zu beschweren, reist Keese nach England, wo Bosch seine Rasenmäher herstellt, und trifft dort den verantwortlichen Manager. Der erklärt ihm, dass die Deutschen eigentlich Pioniere der Digitalisierung seien, aber Schwächen bei der horizontalen Vernetzung von Abteilungen und Kompetenzen haben. Kontrollen und Befehlsketten gebe es in deutschen Unternehmen oft nur von oben nach unten. Die Versprechen, die den Gartenbesitzer Keese für den Mäher begeistert hätten, habe die Werbeabteilung formuliert, ohne sich vorher das Gerät angesehen zu haben. Im Silicon Valley wäre so etwas nicht passiert. Außerdem führe die Nachfrage des Handels nach immer neuen, leicht abgewandelten Produkten dazu, dass die Stückzahlen zu klein seien, um leistungsfähige Chips und entsprechende Software für den Mäher herzustellen. Es lohne sich oft gar nicht, das Beste vom Besten herzustellen, so der Bosch-Manager.
Ein weiterer Faktor, der die Digitalisierung hemmt, ist die deutsche Ingenieurstradition. „Wir glauben, die Maschine ist perfekt, so, wie wir sie bauen“, erzählt ein Stuttgarter Autoingenieur dem Buchautor. „Niemand sah zunächst den Bedarf, nachträglich Software oder Daten ins Auto zu holen.“ Eine ständige Verbesserung des Produkts sei schlicht nicht vorgesehen, weil die deutsche Tradition des Maschinenbaus Perfektion belohne und Fehler bestrafe. Die Folge: Wenn Autos bald autonom fahren, zu Datenbanken auf vier Rädern und zum zweiten Wohn- und Arbeitszimmer werden, fertigen Deutsche vielleicht noch die Blechhülle – am Geschäft mit den Daten während der Fahrt werden aber andere verdienen, nämlich Plattformen wie Alibaba, YouTube, Spotify oder Netflix.
Was ist zu tun, damit der Industriestandort Deutschland aus seiner Selbstgefälligkeit aufwacht und die digitale Revolution nicht verschläft? Aus Sicht von Keese müssen zunächst die deutschen Konzerne eine Kultur horizontaler Verantwortung schaffen, in der die Fachabteilungen miteinander sprechen und sich nicht voneinander abschotten. Ebenso müssen die Unternehmen ihre bestehenden Geschäftsmodelle radikal hinterfragen. Denn es könne nur derjenige überleben, der die Wurzeln seines Erfolgs ständig infrage stellt. Ein Beispiel: die Buchhandelsketten Thalia und Hugendubel, die mit ihrem Tolino-Reader in Deutschland ähnlich hohe Marktanteile haben wie Amazon mit seinem Kindle-Reader. Noch entscheidender sei, dass sich Deutschland zu Beginn des digitalen Zeitalters aus seiner Konsumenten-Perspektive verabschiedet und stattdessen eine „Maker Generation“ ausbildet, die voller Freude alles entwickelt und baut, was mit den neuen Technologien möglich wird. Nur dann könne es Deutschland schaffen, seine Wettbewerber einzuholen und abzuhängen. Und wenn das nicht gelingt? Dann werden Amerikaner und Chinesen eines Tages Deutschland besuchen, um sich hier ein Industriemuseum des 20. Jahrhunderts anzuschauen.
Das Buch:
Christoph Keese, Silicon Valley. Wie wir die digitale Transformation schaffen, Knaus Verlag, München 2016, 22,99 Euro
Der Autor:
Christoph Keese war Chefredakteur der Welt am Sonntag und der Financial Times Deutschland, arbeitet heute als Executive Vice President für die Axel Springer SE. Für sein Unternehmen war er 2013 ein halbes Jahr in Palo Alto, er gilt als einer der maßgeblichen Digitalisierungsexperten in Deutschland. E-Mail: christoph.keese@live.de
Autor: Redaktion Zukunft. Kunde.
Bildquelle: iStock.com/zenstock