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Die Digitalisierung in Estland: e-Estonia – ein digitales Wunderland?

Die Digitalisierung in Estland: e-Estonia – ein digitales Wunderland?

Laptop statt Aktenordner, Dateien statt Papierberge, Handy statt Festnetz. Seitdem 1997 die Regierung Estlands das Programm „Tiigrihüppe“ – den Tigersprung – verkündet hat, gehört das Land im Baltikum zu den am besten vernetzten Ländern der Welt. Wie ist das möglich?

Wenn Arvato-Manager Matthias Müller Deutschland besucht, dann nimmt er seine Heimat oft als ein digitales Entwicklungsland wahr. Selten hat er hier Zugang zum freien WLAN und wenn, dann funktioniert das Netz meist sehr langsam. Das ist in seiner beruflichen Heimat Estland ganz anders. In Tallinn, der Hauptstadt des baltischen Staats, erlebt der Site Manager von Arvato CRM Estonia täglich das, was in Deutschland noch als eine digitale Vision gilt: Die meisten Schulen sind seit 1997 ans Internet angeschlossen, die Regierung arbeitet papierlos, alle Behörden bieten ihre Dienstleistungen online an, die Bürger wählen seit 2007 ihre Politiker übers Internet und fast jeder Este besitzt eine ID-Karte, die als Ausweis, Führerschein, Kredit- oder Gesundheitskarte dient. Tankstellen, Busse, Bahnen, sogar Badestrände und öffentliche Toiletten haben einen drahtlosen Internet-Zugang – seit 2002 ist dieser sogar kostenlos. Der nächste Schritt in der digitalen Evolution soll bald eine eigene digitale nationale Währung sein: der Estcoin.

Vorbild für den Rest der Welt

Wie ist es nur möglich, dass dieses kleine Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern in der Digitalisierung so weit fortgeschritten ist? So weit, dass selbst das Weltwirtschaftsforum sagt: „Von Estland kann der Rest der Welt lernen.“ Möglich machte das der Zusammenbruch des Kommunismus 1991. Es war der Moment, als Estland endlich wieder unabhängig wurde. Die kleine Nation hatte damals große Pläne, aber sehr wenig Geld. In dieser Situation war man jedoch so schlau, verlockende Angebote abzulehnen. Zum Beispiel: das analoge Netz Finnlands kostenlos zu übernehmen. Stattdessen wurde das eigene Telefonnetz radikal erneuert und ins mobile Zeitalter transferiert. Das war ein Grund, ein anderer ist die Mentalität der Menschen: „Die Esten sind viel offener, ihre privaten Daten freizugeben“, erzählt der Deutsche Matthias Müller. Zwar erlebte Estland im April 2007 einen ersten Hackerangriff, als eine Flut unsinniger Datenanfragen die Webserver überschwemmte und die gesamte staatliche Infrastruktur im Netz lahmlegte. Das hat die Esten aber nicht vom digitalen Kurs abgehalten, „weil der Missbrauch von privaten Daten hier viel strenger bestraft wird als in Deutschland“, so Müller. Deswegen speichern die Esten fast alles auf ihrer ID-Karte – angefangen von den biografischen Daten bis zu den Rezepten, die der Hausarzt ausstellt. Dazu Müller: „Meine Frau hat die Daten der Fahrerlaubnis auf ihrer ID-Karte gespeichert. Das reicht um im Auto am Straßenverkehr teilzunehmen.“ 90 Prozent der Esten besitzen diese ID-Karte, benutzen sie im Netz und fühlen sich gut damit.

Ein Ausweis für alles

Die ID-Karte macht nämlich vieles schneller – im Privat- wie auch im Geschäftsleben: Geldtransfers, Steuererklärungen oder Vertragsabschlüsse werden innerhalb von Minuten getätigt. „Die Esten können sich gar nicht mehr vorstellen, dass eine Banküberweisung noch zwei Tage dauert“, sagt der Arvato-Manager. Selbst die Steuererklärung wird über die ID-Karte abgewickelt und dauert nicht länger als drei Minuten, weil jedes estnische Einkommen mit 21 Prozent besteuert wird. „Das funktioniert noch einfacher und schneller als jeder Bierdeckel“, erklärt Müller, der Verträge fast nur noch digital unterschreibt. So können mithilfe der Digitalisierung Geschäfte innerhalb von 15 Minuten aufgesetzt werden. Die Folge: Das Papier ist aus dem Geschäftsleben fast völlig verschwunden.

Die Digitalisierung ist der treibende Faktor für die Modernisierung Estlands und für sein wirtschaftliches Wachstum. Viele IT-Firmen und Start-ups, die auch weltweit erfolgreich sind, sind in Tallinn entstanden: Hotmail, Kazaa und Skype sind nur einige Beispiele für die digitalen Ideen und Entwicklungen aus Estland. Wegen dieses Erfolgs sind viele internationale Unternehmen hellhörig geworden und haben sich im baltischen Staat angesiedelt, um vom Know-how zu profitieren. Doch das ist gar nicht so einfach. „Es ist schwierig, digitale Fachkräfte wie Developer zu gewinnen, weil die meisten sehr begehrt sind“, erzählt Müller aus eigener Erfahrung. Arvato musste daher gezielt um Fachkräfte werben – und tat dies mit Erfolg. Mittlerweile arbeiten 220 Experten für das Unternehmen am Standort in Tallinn.

e-Estin: Bundeskanzlerin Angela Merkel

Die estnische Begeisterung für die Digitalisierung ist auch beim Thema autonomes Fahren spürbar. Aktuell sind in Tallinn drei kleine Busse unterwegs, die sich zum Publikumsmagneten entwickelt haben. Mit Kameras und Radar ausgestattet, bahnen sich die fahrerlosen Busse selbstständig ihren Weg durch den Hauptstadtverkehr. Das Pilotprojekt ist der erste Schritt auf dem Weg zum komplett autonomen Stadtbusverkehr. Ebenso in der Pilotphase befindet sich ein anderes Projekt: die Auslieferung von Produkten und Waren durch autonom fahrende Roboter direkt bis vor die Haustür. Das sind zwei Beispiele aus dem digitalen Wunderland Estland. Ein weiteres ist das kürzlich gestartete und weltweit erstmalige e-Residency-Programm. „Über e-Residency kann jeder Bürger der Welt eine behördlich gewährte digitale Identität und so die Möglichkeit erhalten, über das Internet eine Firma zu leiten und sein ganzes unternehmerisches Potenzial weltweit zu entfalten“, erzählt Kaspar Korjus, Programm-Manager des e-Residency-Programms. Die Gesamtzahl der e-Esten wird bis 2025 auf 10 Millionen geschätzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört schon dazu. Sie ist seit ihrem Besuch Estlands im August 2016 e-Bürgerin mit der Nummer 11.867.

Sind diese digitalen Ideen und Programme eigentlich nur in Estland möglich, weil das Land klein ist und vor gut 25 Jahren die Chance genutzt hat, sich komplett digital umzurüsten? „Alles Quatsch“, sagt Luukas Ilves, estnischer EU-Beauftragter für die Digitalisierung, „auch Flächenländer wie Deutschland haben diese Chance. Sie müssen nur die Beispiele aus Estland aufnehmen und sie einfach besser machen.“

Autor: Redaktion Zukunft. Kunde.
Bild: BirgitKorber – Adobe Stock

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