Die Digitalisierung im Versicherungswesen: Digitales Neuland

Die Digitalisierung wird die Versicherungsbranche in den nächsten Jahren verändern. Doch wie? Dazu machen sich Start-ups und klassische Versicherungsunternehmen aktuell viele Gedanken. Wie wollen sie die digitale Kundeninteraktion zum positiven Erlebnis machen? Und welche Rolle spielt dabei künstliche Intelligenz? Ein Blick in Gegenwart und Zukunft.
Alles nur Science-Fiction? Auf der Insurance Conference Munich 2016 präsentierte ein deutscher Rückversicherer in einem Video, wie ein Kunde in Zukunft von seiner Kfz-Versicherung bei einem Unfall unterstützt wird: Nachdem ein im Auto untergebrachter Dongle einen Auffahrunfall selbstständig erkannt hat, meldet sich der Versicherer automatisch bei seinem Kunden und erkundigt sich nach dessen Zustand. Nach kurzer Zeit kommt eine Kameradrohne vorbei und filmt am Unfallort das Ausmaß des Schadens. Der Versicherer regelt umgehend, dass sein Kunde per Taxi vom Unfallort abgeholt und das Auto abgeschleppt wird. Währenddessen versucht der Unfallgegner immer noch verzweifelt, seinen Versicherer telefonisch zu erreichen. Das Video bringt den Stand der Branche in der Digitalisierung auf den Punkt: Auf der einen Seite stehen jene Unternehmen, in denen der digitale Reifegrad noch niedrig ist, auf der anderen jene, die bereit sind, in den kommenden Jahren enorm in digitale Technologien zu investieren. Dafür gibt es Gründe: „Die neuen digitalen Tools und Technologien sind häufig Neuland für die Versicherer. Der Zukauf von technologischem Know-how ist für viele die einzige Möglichkeit, nicht den Anschluss zu verlieren“, erklärt Carsten Hoffmann, Versicherungsberater bei Willis Towers Watson.
Herausforderung: das Auto der Zukunft
Welche Relevanz und Auswirkung die Digitalisierung für Versicherungen haben wird, verdeutlicht das Thema „Auto der Zukunft“. Newcomer und Vertreter aus anderen Branchen drohen hier den Versicherern das Geschäft streitig zu machen. Automobilhersteller aus Palo Alto, Wolfsburg, Rüsselsheim oder Stuttgart könnten mit Themen wie autonomes Fahren, Connected Drive oder Share Economy in die Rolle von Mobilitätsdienstleistern wechseln und künftig selbst zum Versicherungsvermittler oder -nehmer werden. Wie können Versicherer darauf reagieren? Wie müssen sie ihre digitalen Angebote im Kundenmanagement optimieren? Die größte Schweizer Versicherungsgruppe hat darauf bereits eine Antwort und hatihre Online-Plattform als ein komplettes digitales Ecosystem ausgebaut. Es hält neben einem Kundenportal und einer digitalen Kundenberatung viele neue Services bereit, die über das klassische Versicherungsgeschäft hinausgehen. Zum Beispiel: smartParking, das dem Kunden bei seinen alltäglichen Parkproblemen in der Innenstadt hilft, oder WayGuard, das Frauen mithilfe einer professionellen Leitstelle virtuell nach Hause begleitet.
Chance: vorhandene Daten intelligent nutzen
Das Thema Auto bietet für Versicherungen noch viel mehr Möglichkeiten, um mithilfe der Digitalisierung das operative Geschäft zu erweitern. Dazu ein Beispiel aus Großbritannien: Der britische Automobilclub hat mit einer Direktversicherung die Nutzung von Smartboxen gestartet, die im Fahrzeug die Geschwindigkeit, das Bremsverhalten und die Art der genutzten Straßen erfassen. Der Versicherte erhält sämtliche Daten online und kann so sein Fahrverhalten und damit seine Prämie über die Zeit anpassen. In Deutschland dürfte spätestens mit der Einführung des europäischen Notrufsystems eCall und dessen Einbau in Neuwagen die Debatte um Telematiktarife bei Versicherern an Fahrt gewinnen. Telematiklösungen könnten auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Flottentarifen spielen, weil die gesammelten Informationen wichtige Hinweise auf das Fahrverhalten geben und so zu rückläufigen Schäden und niedrigeren Versicherungsprämien führen könnten.
Im Fokus: junge Zielgruppen
Währenddessen sucht die Hälfte der deutschen Kunden heute ein Versicherungsprodukt im Internet und nutzt dabei Vergleichsportale als Suchmaschinen. Im internationalen Vergleich liegt damit die Internetaffinität der Deutschen an der Spitze, so das Ergebnis des Digital Insurance Monitors 2016. Technikaffine Millennials benutzen dagegen Apps, die sie mit ihrem Smartphone bedienen. Für diese junge Zielgruppe ist Kundennähe nicht mehr gleichbedeutend mit dem Besuch eines Versicherungsagenten in der eigenen Wohnung. InsurTech-Start-ups beschäftigen sich intensiv mit diesen Kunden und haben Produkte entwickelt, die auf deren Lebensstil zugeschnitten sind. Dazu gehören beispielsweise Apps, mit denen Kurzzeitversicherungen für Stadion- und Konzertbesuche, Kita-Ausflüge oder Radtouren abgeschlossen werden können. Auch das Autofahren durch Freunde oder Familienmitglieder kann so kurzfristig versichert werden. Reiseversicherungen werden kurz nach Grenzübertritt per SMS angeboten und können sofort abgeschlossen werden. Weltweit wurden mehr als 800 Millionen US-Dollar in InsurTech-Start-ups investiert, die das Ziel haben, die klassische Versicherungsbranche zu verändern oder zu erneuern. Wie man darauf reagieren kann, wenn man diese jüngeren Versicherungsnehmer nicht an die neuen Wettbewerber verlieren will? Eine Möglichkeit wären intelligente und lernfähige Chatbots, die mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) die persönlichen Daten analysieren und so Versicherungen für jede Lebenssituation besser und schneller anbieten können als jede konventionelle App.
Versichert ohne lange Wartezeit
Wie Versicherungen von KI und lernfähigen Systemen profitieren können, zeigt das Beispiel einer Hamburger Lebensversicherung. Dort vergehen nur fünf Tage vom Antrag einer Lebensversicherung bis zur Übergabe der Police an den Kunden. Normalerweise dauert dieser Prozess drei bis sechs Wochen. Warum braucht man dafür jetzt nur noch knapp eine Woche? Die Versicherung hat eine lernfähige Software entwickelt, die aus der Kombination von einzelnen, medizinischen Symptomen Risiken ableiten kann. Mithilfe einer KI-Komponente merkt sich das System Entscheidungen und zieht Parallelen zu ähnlichen Fällen. Die Folge: Der Anteil von Anträgen, für die aufwändigere Gesundheitsüberprüfungen erforderlich sind, liegt inzwischen bei unter 20 Prozent.
Bei einer japanische Lebensversicherung übernimmt die KI von IBM Watson inzwischen zwei Aufgaben: Das System wertet Dokumente von Ärzten und Krankenhäusern aus, um fällige Zahlungen zu berechnen. Die Software ist zudem in der Lage, besondere Klauseln in Versicherungsverträgen zu berücksichtigen und zu prüfen, ob eine Beschränkung in der Höhe der Auszahlung vereinbart ist. Das soll verhindern, dass die Versicherung zu viel Geld auszahlt. Die Anzahl der Fälle, die so Jahr für Jahr bearbeitet werden, beläuft sich auf 132.000. Aktuell prüfen drei weitere japanische Versicherungsunternehmen den Einsatz von KI-Systemen.
Ausblick: flexibler Partner für aktuelle Lebenssituationen
Fast 80 Prozent der Manager im Versicherungsbereich glauben an eine Veränderung ihrer Branche durch die Digitalisierung, so ein Ergebnis der IBM-Studie „Insurance 2025 – Reducing risk in an uncertain future“. Im Zuge dessen werden sich die Versicherungsprodukte und die Versicherungen selbst zu flexiblen Partnern für die aktuelle Lebenssituation des Kunden verändern. Sie werden Servicepakete anbieten müssen, die dem Kunden individuell und vor Ort weiterhelfen und nützen. Nur Versicherer, die diese Produkte mithilfe der Digitalisierung schnell und maßgeschneidert anbieten können, werden in diesem Wettbewerb noch eine Zukunft haben. Wie das unter Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Kundenberatung gelingen kann, schildern wir im zweiten Teil unserer Serie über „Die Digitalisierung im Versicherungswesen“.
Author: Redaktion Zukunft. Kunde.
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